3. Juli 2023 – Belfast
Eine meiner Lieblingsinseln lockte mich. So sehr, dass ich bereits sehr früh wach war, ungefähr 6.30 Uhr die Balkontür öffnete und nach Jahren wieder die irische Küste sah. Zwar nicht die der Republik Irland, die mich nach drei individuellen Urlauben noch immer fasziniert, sondern die von Nordirland. Eine lang gezogene Steilküste unter grasgrünen Wiesen und Weiden. Sonst nichts außer blauem Himmel. Ja, der Himmel sah gut aus trotz der vorhergesagten 90 %igen Regenwahrscheinlichkeit. Aber als wir uns eine halbe Stunde später der von Hügeln umgebenen Bucht von Belfast näherten,
drängten sich dunkle Wolken über Nordirlands Hauptstadt. Pünktlich um 8 Uhr fuhr unser Schiff in den Hafen und was sahen wir? Das Schiff, mit der wir gerne mit den Nienhagener Mitgliedern der Achterbande die westeuropäische Flüssefahrt genossen hätten. Aber bei uns klappte es aus terminlichen Gründen nicht. Also: Die AIDAaura lag vor uns!
Schön, sie noch einmal zu sehen bevor die Eigner gewechselt werden!
Heute mussten wir in Windeseile frühstücken – unser Ausflug „Landschaftsfahrt ins nordirische Londonderry“ begann bereits um 9.15 Uhr. Warum wählten wir gerade diesen Ausflug, auch wenn uns ein bisschen mulmig dabei war? Ganz einfach – vor einigen Jahren lagen wir schon einmal mit einem Kreuzfahrtschiff im Belfaster Hafen – mit der AIDAaura. Damals nahmen wir das Angebot eines örtlichen Anbieters an und ließen uns als Kleingruppe zum Giant´s Causeway fahren incl. Stopps am Carrick-a-Rede, Dunluce Castle, an den Dark Hedges und an der Friedenslinie. Damit hatten wir bereits die landschaftlichen Attraktionen Nordirlands „abgearbeitet“, dem Game of Thrones unsere Referenz erwiesen und wollten nunmehr eine geschichtsträchtige, dabei auch in der Entwicklung mit viel Blut versehene Stadt im äußersten Nordwesten Nordirlands besuchen.
Und schon ging´s los. Bei leichtem Regen, der uns allerdings später den Gefallen tat und versiegte. Wir verließen das Hafengebiet, passierten das Titanic Museum und fuhren durch die Vororte Belfasts. Es war nicht gerade attraktiv, was an uns vorüberzog. Das änderte sich als Belfast hinter uns lag. Fast nur Grün, kleinere Ortschaften, Hügel. Im Gegensatz zum Süden Irlands sahen wir so gut wie keine bunten Häuser und die an uns vereinzelt vorbeihuschenden Gaststätten hießen Inn statt Pub. Aber egal, solange der Gerstensaft gut läuft …
Moderiert wurde die Fahrt von einem Nordiren. Ihn kennzeichnete ein außerordentliches Mitteilungsbedürfnis und wir ließen seinen Rededurchfall in english mit irischen Besonderheiten wehrlos über uns ergehen. Je länger wir unterwegs waren, umso schneller sprach er. Anfangs konnten wir noch gut mithalten, aber nach einer gewissen Zeit schlafften wir ab … anstrengend …
Nach etwas mehr als einer Stunde angenehmer (bis auf die Lautuntermalung) Landschaftsfahrt näherten wir uns Londonderry.
Oder Derry … Was denn nun? Okay, als Mitte des 16. Jahrhunderts der achte Heinrich Irland für die englische Krone und damit auch für sich einsackte, waren die schon seit langer Zeit unterdrückten Iren damit nicht einverstanden. Die Engländer, die protestantischen Unionisten, behielten die Oberhand und aus Dankbarkeit für die finanzielle Förderung durch London (schon damals gab es Subventionen!) nannten die Gilden ihre Stadt von Derry in Londonderry um. Dem einen war dies ein Dorn im Auge, die anderen grinsten sich eins. Der Dorn oder das Grinsen hielt Jahrhunderte an bis 1984 die katholischen Republikaner die Mehrheit im Stadtparlament errangen und ihre Stadt wieder in Derry umtauften. War´s das? Nee – dieses Umtaufen wurde nie von den Unionisten akzeptiert und um des guten nachbarlichen (?) Friedens willen firmierte die Stadt im öffentlichen Schriftverkehr fortan als Derry/Londonderry. Für die einen eine zu lange Bezeichnung, für die anderen ärgerliche/provozierende Begriffe (je nachdem, ob Republikaner oder Unionist). Um diesem Dilemma aus dem Wege zu gehen, gab es einen typisch irischen Vorschlag: Man sollte die Stadt nur noch „Stroke City“ nennen – Stadt des Schrägstrichs …
Nach 1 ½ Stunden Fahrt steif gesessen schlichen wir aus dem Bus. Dorthin, wo vor Jahrzehnten die Gewalt eskalierte. Als erstes fiel uns der Hinweis ins Auge: Sie betreten das freie Derry.
Eine Giebelmauer eines abgerissenen Wohnhauses in Sichtweite der Stadtmauer; ein ehemaliges Wohnhaus an der „Grenze“ des katholischen/republikanischen Bezirks Bogside und der ehemals protestantischen/unionistischen Teile von Belfast. In nordirischen Städten – insbes. in Belfast und Derry – fertigten seit Anfang des letzten Jahrhunderts beide Fraktionen Wandmalereien, die Murals, um ihre Gegner mit mehr oder weniger aggressiven Parolen und Gedenkhinweisen an ihre verstorbenen bzw. getöteten Anhänger einzuschüchtern. Also gegenseitige Politik an allen Ecken, die gerade an dieser „Demarkationslinie“ in der Vergangenheit oft eskalierte. Protestanten provozierten in dieser Gegend Katholiken mit ihren jährlichen Paraden anlässlich des Jahrestages des Endes der Schlacht am Boyne. Im August 1969 war es so weit – Katholiken nahmen die Provokation an und schlugen in der „Battle of the Bogside“ zurück. Sie dauerte drei Tage; getötet wurde zum Glück niemand, aber ca. 1.000 Menschen wurden verletzt. Dieses Ereignis war der Beginn einer fast 30jährigen Auseinandersetzung; außerdem löste sich die Verwaltung der Bogside drei Jahre lang von der der Gesamtstadt und stellte sich als autonom dar.
Gegenüber der Giebelmauer besuchten wir ein Denkmal für die Hungerstreikenden von 1981. Republikanische Inhaftierte traten seinerzeit in den Hungerstreik; von ihnen starben 10, darunter der erst kurz zuvor ins britische Unterhaus gewählte Bobby Sands.
In unmittelbarer Nähe gedenken die Republikaner an Mitglieder der provisorischen IRA, die bei den Aktionen ums Leben kamen.
Von der Derry Free Corner fuhren wir an einen zentralen Platz an der Stadtmauer
und durften den Bus an der Guildhall, dem jetzigen Rathaus verlassen.
Nicht weit von hier entfernt begann am 30. Januar 1972 das große Unglück. Nach Jahrzehnten mehr oder weniger hingenommener Benachteiligung und Diskriminierung starteten ungefähr 10.000 Katholiken eine zunächst friedliche Demonstration, die die britische Armee mit Barrikaden stoppen bzw. umleiten wollte. Ca. 100 jugendliche Demonstranten bewarfen Soldaten und Polizisten mit Steinen. Wohlgemerkt – nur mit Steinen; die Protestler nutzten keine Feuerwaffen. Aber herbeigerufene Fallschirmjäger einer Spezialeinheit schossen auf die Demonstranten – zunächst kamen 13 von ihnen ums Leben; die Mehrzahl von ihnen wurde auf der Flucht erschossen oder als sie sich um Verwundete kümmerten. Der Bloody Sunday, der wiederum zur Eskalation führte. 1972 wurde zum blutigsten Jahr des Nordirlandkonflikts; beide Seiten gaben nicht nach.
Davon war am Tag unseres Ausflugs glücklicherweise nichts zu merken. Bis auf die vielen Mahntafeln. Alles war friedlich. Wir auch, die durch das Shipquay Gate der Stadtmauer gingen. Zum Silver St Inn. Eine plüschige Bar mit Flaschenbatterien,
die vermutlich jeden Wunsch erfüllt hätten. Wir kamen nicht in Versuchung, dieses zu testen. Dazu war es zu früh in diesem 1684 gegründeten Gasthaus; übrigens Derrys älteste Bar. Nicht ganz so alt war das, was uns geboten wurde.
Im Gegenteil – ganz frische, noch warme Scones zum Tee oder Kaffee. Es hätten mehr Scones sein können … außen knusprig, innen fluffig. Einfach nur lecker …
Genug der Erinnerung an die Zwischenmahlzeit – es begann der Rundweg auf der Stadtmauer, die wir am Shipquay Gate „bestiegen“. Gut 1,5 km ist sie lang, sechs Meter hoch. Angelegt wurde sie Anfang des 17. Jahrhunderts und zwar vorwiegend aus Steinen von zerfallenen Klostergebäuden. Bei dem Volumen mussten es viele große Klöster gewesen sein ... Londonderry wurde einige Male lang andauernd belagert – die Mauern hielten immer stand. Gute, alte englische Wertarbeit.
Entlang der Mauer wurde ein Fußweg angelegt, den wir uns vornahmen. Der Blick von der Stadtmauer auf die Sehenswürdigkeiten inner- und außerhalb des Ringes hatte schon etwas – der Überblick war einzigartig. Beginnen wir mit der Guildhall.
Na, wer richtete Kanonen auf das Rathaus?! Sämtliche, natürlich nicht mehr funktionsfähige Kanonen stammen aus dem 17. Jahrhundert, auch diese,
die keineswegs einen Banküberfall vorbereiteten. Der Blick auf die Friedensbrücke über den River Foyle durfte nicht fehlen,
ebenso wenig der Blick zurück auf den Fußweg entlang der Mauer mit den Spitzen der Guildhall im Hintergrund. An diesem Foto erkennt man sehr gut, dass jeder m² innerhalb der Mauer genutzt wurde. An ihr grenzte unmittelbar die Bebauung. Wohnhäuser, Inns, … alles, was man so brauchte …
An einigen Stellen verstärkten Bastionen die Mauer. Auch ein Grund, dass sie in der Vergangenheit nicht zu bezwingen war. Immer wieder mussten wir stoppen und lauschten den Erklärungen des Reiseführers. Und hielten den Ausblick auf die Bogside, Free Derry Corner mit der Giebelwand von hinten/der Seite, den Murals und der St Eugene's Cathedral, der 1873 eröffneten „Mutterkirche“ der römisch-katholischen Diözese Derry, fest.
Beeindruckend war dabei auch das Häusergewimmel der Bogside mit unterschiedlichen Bemalungen der Giebel der Wohnblocks.
Einige Meter weiter fiel uns ein pompöses Gebäude innerhalb des Mauerringes auf.
Es handelte sich um die First Derry Presbyterian Church mit angeschlossenem Museum. In der heutigen Form stammt sie aus 1780 mit Erweiterungen in den Folgejahrzehnten; errichtet wurde sie über der Vorgängerkirche.
Weiter ging´s mit unserem Spaziergang auf der Mauer.
Am Rande der Rasenfläche zwischen Stadtmauer und Bogside ragte die von Bäumen umrahmte St. Columba's Church Long Tower hervor. Außerhalb der Altstadt und am katholischen Viertel grenzend war es selbstverständlich eine römisch-katholische Kirche, geweiht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auch sie stand – wie so oft in Irland – auf den Resten eines im 12. Jahrhundert gebauten Gotteshauses.
Bevor wir uns der nächsten Kirche widmen ein Abschieds-Überblick auf die Bogside mit der alles überragenden St Eugene's Cathedral.
Nun aber zum nächsten Kirchlein, eins mit einer bewegenden Geschichte.
Mitte des 6. Jahrhunderts gründete der damals noch nicht heilige Columban (der, der im Fluss Ness einem Wassertier befahl, von einem seiner Anhänger abzulassen; was angabegemäß Erfolg hatte!) in Derry ein Kloster, das sich ziemlich schnell zum führenden Kloster Irlands entwickelte. Der Reichtum sprach sich herum und das Kloster wurde mehrmals geplündert, aber immer wieder zum Leben erweckt. Der römischen Macht stanken die vom „Urglauben“ abweichende keltisch-christliche Kirche und so kam es, wie es kommen musste: Die Augustiner übernahmen in Irland sämtliche Klöster und Rom hatte das Sagen. Basta! Ungefähr 300 Jahre später begann die Besiedelung Ulsters durch z.B. schottische Presbyterianer, die sich das Kirchlein unter ihre Nägel rissen. Endlich noch ein Glaubenstausch! Ende des 19. Jahrhunderts entstand nach dem Abriss der alten Kirche die gemütliche St. Augustine's Church in der jetzigen „Gestalt“ und in ihr werden Gottesdienste der Church of Ireland abgehalten. Auf dem angrenzenden kleinen Friedhof fanden einige Honoratioren der Stadt ihre letzte Ruhestätte.
Wie immer: Fortsetzung folgt ...
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