Hinter Loen beginnt das Lodalen, eine ebenso schöne wie auch mit zwei tragischen Naturkatastrophen verbundene Gegend. Die Jahreszahlen 1905 und 1936 haben sich sicherlich genauso tief ins Bewusstsein der Einwohner dieser Gegend eingebrannt wie der Name eines Berges: Ramnefjell. Doch dazu später mehr. Im Moment genießen wir einfach die Fahrt vorbei an einer Kulisse atemberaubender Natur mit massiven Felsen, üppig blühenden Sommerwiesen und einem wild rauschenden Bach, gespeist vom Schmelzwasser des Jostedalsbreen.
Während ich mit meiner Kamera noch schwer beschäftigt bin, die Schönheit der Landschaft in ein paar Schnappschüssen zu konservieren, breitet sich etliche Meter unter uns plötzlich eine türkisblaue Wasserfläche, pittoresk eingerahmt von stillen Buchten, kleinen Ferienhäuschen und vielen Birken mit ihren markanten weißen Stämmen - ein Traum von einem Gletschersee.
Oh, wie wunderschön. Kurz darauf gerate ich noch mehr ins Schwärmen, als uns Thomas erzählt, dass hier am Ufer dieses traumhaften Sees - des Lovatnet - unser Ausflugsboot auf uns wartet. Mit ihm schippern wir in rund 45 Minuten über dieses schon beinahe unnatürlich wirkende Wasser. Und schon sehen wir es auch am Ufer liegen - das schlanke Bötchen mit der unübersehbaren Werbung für die "Kjenndalstova". Was das ist, werden wir nachher noch erfahren. Die Gäste aus dem vor uns gefahrenen Bus sind schon fleißig am "Einchecken". Ob ich noch ein Plätzchen an der frischen Luft auf dem Sonnendeck bekomme?!
Weit voraus, irgendwo am Ende (oder am Anfang?!) des Sees ist im Bergmassiv eine Eisfläche auszumachen. Ich nehme mal an, das wird der Kjenndal-Gletscher sein. Ich habe Glück, ein nettes Ehepaar, das ebenfalls dem "Freiluftvergnügen" an Deck frönen möchte, hält mir doch tatsächlich einen Platz frei. Das ist wirklich sehr nett und keinesfalls selbstverständlich. Zufälligerweise hatten wir auch gestern in Flåm denselben Ausflug gemacht und kamen - ebenfalls an Deck - immer mal etwas ins Gespräch. Und heute nun gehen wir auf gemeinsame Gletschererkundung.
Kapitän Jon stellt sich vor und ist auch gleich um unser Wohl bemüht: "Wir haben auch Schwimmreifen an Bord!" Ich glaube, damit meint er die Rettungswesten. Zumindest weist er auf die überall befindlichen Kisten mit dem unmissverständlichen Symbol hin. Dennoch habe ich gleich Kopfkino, wie wir alle mit quietschbunten Schwimmringen vergnügt durchs türkisfarbene Gletscherwasser paddeln.
Pünktlich um 09:00 Uhr legen wir ab und spontan kommt mir das Kinderlied "Jetzt fahr´n wir über´n See …" in den Sinn. Fröhlich weht die norwegische Flagge am Heck. Vom ersten Augenblick an ist die Landschaft einfach nur gewaltig und es ist schwer, für die unglaublich schöne, uns umgebende Natur die richtigen Worte zu finden. Thomas erzählt Einiges, doch wie bereits auf dem gestrigen Ausflugsboot verstehe ich auch hier nicht alles, obwohl unser kleines Boot heute wesentlich ruhiger übers Wasser fährt. Manches Mal höre ich auch gar nicht so genau hin, sondern lasse einfach meine Gedanken schweifen, während meine Seele irgendwo in der Weite Norwegens baumelt … Das Naturkino spricht für sich selbst …
Kleinere und größere Wasserfälle, die von den steilen Bergen stürzen, Schnee- und Eisfelder und immer wieder diese unglaubliche Farbe des Wassers. Ein blau-weißer Himmel … Ach, es ist so schön, dass sich das Tor zu den Gletschern nunmehr für uns geöffnet hat.
Vor der winzigen Bugspitze unseres kleinen Bötchens scheint der "Eingang" zu den Gletschern zu sein. Und ja, es stimmt. Das große Eisfeld, das ich vorhin schon gesehen hatte, gehört tatsächlich schon zum Kjenndal-Gletscher. Die Szenerie wirkt so erhaben. Es ist so traumhaft hier und einmal mehr bin ich dankbar, das alles erleben zu dürfen.
Dennoch macht mich diese Kulisse nachdenklich, denn sie wirkt auch irgendwie bedrohlich, was nicht in erster Linie an den sich über unserem Boot aufbauenden drohenden Wolken liegt. Wir in unserem kleinen Bötchen, nur wenige hundert Meter von wiederum mehrere hunderte Meter hohen steilen, teils fast senkrecht ins Wasser abfallenden Felswänden. Wir - die Menschen, die denken, immer und überall über den Dingen zu stehen - sind hier bedeutungslos. Völlig bedeutungslos. Denn die Natur hat ihre eigenen Pläne, wie die Vergangenheit gerade in dieser Region bereits zweimal auf dramatische Weise gezeigt hat.
Den Ort des Geschehens werden wir nachher direkt passieren und auch die nach Jahrzehnten noch sichtbare "Narbe" unmittelbar erleben. Es geht um einen geteilten See, zwei verschüttete Dörfer und eine bis zu 72 Meter hohe Flutwelle.
Im Moment raubt vielen von uns aber etwas ganz anderes, das sich langsam in unser Blickfeld schiebt, den Atem. Hoch über unseren Köpfen, dort wo die Bergspitzen an den Himmel "anstoßen", wird ganz viel zerklüftetes, gespaltenes, sich furchteinflößend aufgebautes blau-weiß-graues Eis sichtbar: der Jostedalsbreen "züngelt".
Und irgendwo in seinem "Gaumen" ergießen sich Wasserfälle aus Schmelzwasser:
Doch das sollte erst der Anfang sein. Gleich wird es noch viel spektakulärer.
Europas größter Festlandsgletscher zieht mich total in seinen Bann und ich vergesse nahezu alles um mich herum. Zwar war ich bereits mehrfach in Norwegen, doch solche spektakulären Ausblicke habe ich bisher noch nirgendwo erlebt. Kein Wunder, dass der Auslöser meiner Kamera wieder einmal beinahe glüht. In der Nord-Ost-Ausdehnung zirka 40 Kilometer lang ist dieser Eisriese und ungefähr 15 Kilometer breit von Süd nach West. Bis zu 500 Meter dick ist sein Eispanzer. Und dann diese vielen "Arme". Was für ein gewaltiger "Eis-Krake". Doch er ist kein Überrest der letzten Eiszeit, er ist viel jünger, denn er entstand erst vor rund 5.000 Jahren gegen Ende des Holozäns, auch "Nacheiszeitalter" genannt.
Den Briksdalsbreen, eine andere der vielen Gletscherzungen, kennen sicher bereits einige Reisende, die in der Gegend um Olden auch auf Tuchfühlung mit den Eisriesen gingen. Oder auch der Nigardsbreen, dessen Namensgeber, das ehemalige Dorf Nigard, Mitte des 18. Jahrhunderts bei einem schnellen Vorstoß des bis dahin vielleicht noch namenlosen Gletschers kurzerhand von den Eismassen verschluckt wurde. Und der Bøyabreen, ein sogenannter Hängegletscher des Jostedalsbreen, schaffte es im Sommer 2010 sogar zum Fernsehstar als einer der Drehorte der Folge "Das Ende der Eiszeit" der norwegischen Herz-Schmerz-Reihe "Liebe am Fjord", von der ich aufgrund der atemberaubenden Landschaftsaufnahmen ein großer Fan bin.
"Das Ende der Eiszeit", nicht nur ein fiktiver Titel einer TV-Schnulze, sondern leider seit Mitte des 19. Jahrhunderts traurige Realität. Die weltweite Klimaerwärmung macht auch vor den Gletschern Norwegens leider nicht halt. Norwegens "Eiszeit" ist endlich. Und welches dramatische Ausmaß das Ganze mittlerweile angenommen hat, wurde mir im Jahr 2010 am Briksdals-Gletscher mehr als deutlich bewusst, als ich ihn damals nach sieben Jahren zum zweiten Mal besuchte. Der Wanderweg von Briksdal hinauf zum Gletscher wird flankiert von Hinweisschildern mit Jahreszahlen, die die damalige gewaltige Ausdehnung dieses Gletschers verdeutlichen. Welche dramatische Veränderung er in nur sieben Jahren durchlebt hat, kann sich der interessierte Leser gern im "Wasserurlaub"-Forum in einem Beitrag von mir im "Olden"-Thread ansehen. Hier der Link: Olden Norwegen (Beiträge #25 und #26).
Während ich sehr nachdenklich an der Reling stehe, zieht die unvergessliche Kulisse langsam an uns vorbei. Wie lange noch werden Reisende Anblicke wie diese genießen können? Ich hoffe inständig, es wird noch vielen Generationen vergönnt sein.
Die hohen Berge rücken noch näher zusammen. Vor uns scheint sich der See zu verengen. Große teils mit leuchtendem Moos bewachsene Felsbrocken liegen mitten im See. Noch kann man keine weiteren Details ausmachen, doch wir nähern uns dem Schauplatz zweier gewaltiger Naturkatastrophen, die die ganze Region vor Jahrzehnten erschütterten und den Bewohnern zweier Dörfer großes Leid zufügten. Ramnefjell - der Berg rechts auf dem Foto - schiebt sich in unser Blickfeld. Noch können wir seine Flanke, den Auslöser dieser Katastrophe, nicht sehen.
Doch während unser kleines Boot durch ein Labyrinth voller teils hausgroßer Felsbrocken fährt, lernen wir die leidvolle Geschichte kennen, die mit dieser "Narbe" in direkter Verbindung steht. Und während ich gebannt den dramatischen Ausführungen lausche, entwickle ich noch mehr Ehrfurcht vor den Gewalten der Natur.
Die erste Katastrophe ereilte die Region am 15. Januar 1905, als hier bereits ein für die damalige Zeit reger Tourismus herrschte. Dampfschiffe beförderten Gäste über den Lovatnet. Es war die perfekte Idylle und es wäre damals sicherlich genauso idyllisch weitergegangen, wenn … Tja, wenn da nicht diese unvorstellbaren 870.000 Tonnen Felsgestein gewesen wären, die sich von der Flanke des Ramnefjell gelöst hätten und in den See gestürzt wären. Eigentlich war es nur ein Felsbrocken, der sich in rund 500 Metern Höhe löste. Doch er riss jede Menge Geröll mit in die Tiefe. Über 60 Tote waren in den beiden in Ufernähe befindlichen Dörfern Nesdal und Bødal zu beklagen. Eines der den See befahrenden, aber im Januar im "Winterschlaf" befindlichen Dampfschiffe, die "Lodalen", wurde von einer gewaltigen, rund 40 Meter hohen Flutwelle 350 Meter weiter aufs Land geschleudert, wo es später auch liegengelassen wurde.
Und, als wäre diese Naturkatastrophe nicht schon schlimm genug gewesen, sollte es noch schlimmer kommen … Viel schlimmer … Und eigentlich jenseits menschlicher Vorstellungskraft. Die Gegend hatte sich langsam von den Erlebnissen des beginnenden 20. Jahrhunderts erholt, meldete sich "Ramnefjell" 31 Jahre später erneut. Der Berg gab keine Ruhe und entschloss sich, am 13. September 1936 einen weiteren Teil Gestein abzustoßen. War die Menge des Jahres 1905 schon schwer fassbar gewesen, so ist diese Katastrophe noch schwerer vorstellbar. Über eine Million Kubikmeter Gestein löste sich dieses Mal in rund 800 Metern Höhe, stürzte zu Tal, teilte den Lovatnet endgültig in zwei Teile und ließ den folgenden Tsunami rasend schnell auf eine Höhe von 72 Metern anwachsen. Erneut traf es Nesdal und Bødal, wo 74 Menschen ihr Leben verloren. Das Wrack des Dampfschiffs "Lodalen" wurde erneut fortgerissen und fand rund 50 Meter über (!) dem See sein endgültiges Grab.
Und genau im "Epizentrum" dieser damaligen unfassbaren Naturkatastrophen befinden wir uns jetzt … Der Berg wird seit den letzten Jahrzehnten genauestens überwacht und vermessen. Die "Katastrophe des Lodalen", die größte Naturkatastrophe, die Norwegen jemals ereilte, kann sich jederzeit wiederholen. Wann es soweit sein könnte?! Keiner weiß es. Was bleibt, ist ein etwas mulmiges Gefühl. Denn sollte es genau jetzt soweit sein, braucht man über Flucht nicht mal mehr im Ansatz nachzudenken.
Die "Narbe" des Ramnefjell …
Rund 1.500 Meter hoch ist dieser Berg, der vor nunmehr über 110 Jahren zum "Schicksalsberg" wurde. Die "Narbe" in Form dieser großen hellen, unbewachsenen Fläche an seiner Flanke zeugt von den gewaltigen Gesteinsmassen, die von hier aus zu Tal und in den Lovatnet stürzten.
Noch etwas versteckt ist links der Utigardsfossen zu sehen. Rund 1.100 Meter tost er am Felsmassiv Ramnefjell in die Tiefe. Dieser Wasserfall ist der elfthöchste Wasserfall der Welt.
Die heutige Idylle im einstigen Katastrophengebiet … Schön, aber trügerisch … denn die Gewalt der Natur meldet sich vielleicht eines Tages zurück …
Der Utigardsfossen und die ganze Dimension der Felsstürze - aus dieser Perspektive noch besser erkennbar:
"Der Wassermann vom Utigardsfossen" - Diese Rinnsale ähneln doch sehr einem Menschen mit in die Hüfte gestütztem linkem Arm, oder?! Mit etwas Fantasie kann man so Einiges entdecken.
Langsam nähern wir uns unserem Ziel, umgeben von hohen Felsmassiven, die immer wieder vom blauen Eis bedeckt sind.
Meint ihr nicht auch, auf diesem Foto einen Steintroll mit weit aufgerissenem Mund (oder Maul?! ) erkennen zu können?!
Fortsetzung folgt …
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